Refine
Keywords
- Beginnlosigkeit (1)
- Eddington, Arthur Stanley (1)
- Einstein, Albert (1)
- Naturwissenschaften (1)
- Paare (1)
- Passanten (1)
- Poetik (1)
- Strauß, Botho (1)
- Zeit (1)
- Ästhetik (1)
Die vorliegende Arbeit geht von der These aus, dass die Zeitthematik in ihren unterschiedlichen Aspekten eine konstitutive Rolle in Strauß" bis dato erschienenem Werk spielt und dass Strauß frühzeitig beginnt, einen eigenständigen Zugang zu dieser Problematik zu erkunden, der, ausgehend von der Alltagserfahrung, vor allem die Bereiche der Naturwissenschaften und Ästhetik einschließt. Die Kernphase dieser Aneignung wird dabei in einer über zehnjährigen Schaffensperiode in Strauß" früherem Werk verortet, in der Begrifflichkeiten aus diesem Komplex stark gehäuft auftreten. Sie lässt sich anhand von vier zentralen Werken umreißen: "Paare, Passanten", "Der junge Mann", "Die Zeit und das Zimmer" und "Beginnlosigkeit". Dabei liegt ein Hauptaugenmerk darauf, den oft tastenden, experimentellen Charakter der oft fragmentarischen Texte in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und der chronologischen Entwicklung von Strauß" Zeitbegriff zu folgen. Als Ausgangspunkt wird ein fundamentales Ungenügen identifiziert, das der Autor in "Paare, Passanten" schrittweise anhand von Alltagsbeobachtungen konkretisiert. Strauß zeichnet hier das Bild des "Gegenwartsnarren", der in seiner beschleunigten, medial dominierten Umgebung zunehmend in die Rolle des passiven Konsument eines Informationsüberangebotes gedrängt wird. Er zieht den flüchtigen Reiz der wechselnden Bilder dem Ergründen von Sinnzusammenhängen vor und verliert dabei letztlich seinen Bezug zur Geschichte. Sowohl zu seiner eigenen, individuellen Herkunft als auch zum gemeinschaftlichen Narrativ, das zwischen den Schrecken von Holocaust und drohender atomarer Vernichtung eh bereits einen großen Teil seines sinnstiftenden Potenzials eingebüßt hat. "Der junge Mann" baut auf diesen Befund auf und verschreibt sich der Erkundung eines "neuen Zeitempfindens", das es ermöglichen soll, unsere moderne Lebenswelt in ihrer Beschleunigung und oberflächlichen Divergenz wieder als sinnerfüllt wahrzunehmen. Die Analyse der Einleitung und ersten Romankapitel zeigt, wie Strauß dazu zunächst tradierte Zeitbegriffe radikal hinterfragt und letztlich in Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften ein eigenes Konzept entwickelt, das er in der Folge erprobt. Anknüpfend an die Syntheseansätze von Arthur Eddington verbindet Strauß Erkenntnisse aus der Relativitätstheorie, der Thermodynamik, der Komplexitätstheorie und Kybernetik zu einem Ganzen, das der als zu eng empfundenen linearen Progression ein vielschichtiges Modell entgegensetzt, das auch Stillstand, zyklische Wiederkehr sowie zeitweilige Verjüngung und Rückläufigkeit als Konstituenten zeitlicher Abläufe begreift. Die spezielle Relativitätstheorie räumt dabei mit der Vorstellung einer absoluten physikalischen Zeit auf, die gleich einem universellen, transzendenten Uhrwerk der Welt ihren Takt und ihre Richtung aufzwänge. Sie begreift Zeit und Raum als Verhältnisse, in denen die Ereignisse zueinander stehen und die letztendlich den Dingen selbst entwachsen. Einen kontinuierlichen, gerichteten Fluss der Zeit kann die Relativitätstheorie nicht verbürgen; diese Lücke versuchen Physiker in Anschluss an Eddington mit dem Hinweis auf die Thermodynamik zu schließen. Nach deren zweiten Hauptsatz müsste das Universum als geschlossenes System einer stetigen Entropiezunahme unterliegen, die letztlich den Strom der Zeit konstituiere. In diesem globalen Fluss, und hier beruft Strauß sich auf die Komplexitätstheorie, gibt es jedoch immer wieder lokale Abweichungen und gegenläufige Entwicklungen. Strauß baut auf diesen Überlegungen auf und integriert sie tief in seine eigene Ästhetik. So greift der "Junge Mann" in seinen Erzählstimmen und in der Figurenrede nicht nur häufig Gedanken und Bilder aus der wissenschaftlichen Debatte auf, die ganze Struktur des Romans lässt sich als ein solcher Wechsel zwischen linear-gerichteten Rahmenstrukturen und divergenten Binnenelementen verstehen. Dieses Verfahren, naturwissenschaftliche Aspekte der Zeitthematik in der künstlerischen Form aufgehen zu lassen, baut Strauß in den nächsten Jahren weiter aus, wie die Arbeit exemplarisch an zwei weiteren Werken zeigt. "Die Zeit und das Zimmer" etwa zeugt in seiner ganzen Anlage von einer Auseinandersetzung mit der Quantentheorie und dem "Viele-Welten-Modell". Hier wird im fiktionalen Raum eine Welt erforscht, in der die Entscheidung zwischen mehreren Möglichkeiten keinen ausschließlichen Charakter mehr hat, sondern mehrere Alternativversionen eines Lebenswegs parallel zueinander koexistieren. "Beginnlosigkeit" schließlich entwirft analog zur "Steady-State-Theorie" eine Ästhetik, die ohne Anfang und Ende auskommt und deren "Botschaft" letztlich in die Textgestalt eingeschrieben ist. An Stelle einer linear-diskursiv aufgebauten Erzählung tritt ein Verbund von fragmentarischen Textblöcken, der zunächst inkohärent wirkt, aber durch lose thematische Bezüge, vor allem aber auch durch assoziative Anklänge und leitmotivisch wiederkehrende Bilder immer wieder auf sich selbst vor- und rückverweist. Dem Leser, der sich auf diese Textbewegung einlässt, offenbart sich im Vor- und Zurückblättern die gewünschte Leseerfahrung: Sinnkonstitution erschöpft sich nicht in einer linear-progressiven Verkettung von Vorher und Nachher, von Ursache und Wirkung. Erst wenn die "Linie" durch den "Fleck" ergänzt wird, d.h. durch Elemente des Richtungslos-Assoziativen, des Zyklus und selbst der Stase, ist eine Erkenntnishaltung erreicht, die der Vielschichtigkeit unserer Lebenswelt gerecht wird. Strauß" Projekt eines "neuen Zeitempfindens" ist damit zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Die Naturwissenschaften dienten dabei als zentrale Inspirationsquelle und gaben einen Erkenntnisstand vor, hinter den der Autor nicht zurückfallen wollte; letztlich gehen sie jedoch weitestgehend in ästhetischer Form auf.