940 Geschichte Europas
Die Arbeit widmet sich der Geschichte der Juden in den "niederen Landen" von ca. 1200 bis um 1520, mit einem Epilog über die Mitte des 16. Jahrhunderts. In der Hauptsache werden dabei die Landesherrschaften Hennegau, Brabant und Geldern in vergleichender Perspektive betrachtet. - Teil I beschreibt die Siedlungsgeschichte von den Anfängen um das Jahr 1200 über die Verdichtung des Niederlassungsnetzes bis zur Katastrophe der Jahre 1349-50 und weiter bis in die Zeit der spätmittelalterlichen Vereinzelung von Juden und ihres Ausweichens unter kleinere Herrschaften. - Teil II bietet neue Bausteine für eine Sozial- und Kulturgeschichte der jüdischen Geldleihe, welche auch in den mittelalterlichen Niederlanden der bestimmende Erwerbszweig der Juden war. - Teil III widmet sich ausführlich den Judenverfolgungen des 14. Jahrhunderts - dem "Kreuzzug" von 1309, der Verfolgung zur Zeit des "Schwarzen Todes" 1349-50 und der Brüsseler Hostienfrevelaffäre von 1370. Wichtige, weiterführende Ergebnisse bietet vor allem die Analyse der Quellen über die Katastrophe zur Zeit der Pest. - Teil IV spürt den historischen Veränderungen des christlichen Judenbildes und den Entstehungs- und Verbreitungsformen verschiedener judenfeindlicher Legenden (Ritualmord, Bilder- und Hostienschändung) im Untersuchungsraum nach. - Die im zweiten und vor allem im vierten Teil gemachten Beobachtungen werden abschließend im Hinblick auf die Frage nach dem Einfluss der Bettelorden reflektiert. Dabei wird ein Modell entworfen, in dem diese Orden vor allem in ihrer Vermittlerfunktion wirksam waren; entscheidend war auch in diesem Zusammenhang der Faktor Herrschaft.
Die Untersuchung bietet eine erste intensive Aufarbeitung der Geschichte der Juden im westalpinen Transitland Savoyen-Piemont im Spätmittelalter. Das Territorium reichte über die im heutigen Sprachgebrauch bekannten Regionen Savoie und Haute-Savoie in Frankreich sowie Piemont in Italien hinaus. Die Grafschaft, die ab 1416 zum Herzogtum aufstieg, stellte damit nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht eine Transitlandschaft dar, sondern bildete auch sozial, kulturell und sprachlich eine Brücke zwischen dem französischen, italienischen und schweizerischen Gebiet. - Zuwanderungen von Juden nach Savoyen sind aus dem gesamten französischen Raum nachzuweisen; Weiterwanderungen jenseits der Alpen nach Piemont sind jedoch erst nach der Vereinigung der beiden Länder 1418 und nur sehr zögerlich erfolgt. Von landesherrlicher Seite wurde erst mit den Statuten Amadeus' VIII. in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts versucht, Einfluss auf das jüdische Leben im Herzogtum zu nehmen. Weitaus folgenträchtiger war die fiskalische Ausnutzung des landesherrlichen Judenregals. - In Chambéry und weiteren Städten entwickelten sich auch eigene innerjüdische Einrichtungen (Synagogen, Friedhöfe, Gerichte). Weiter reichende Organisationsformen gestalteten sich dagegen - abgesehen von informellen Kontakten - erst unter Einwirkung von Amadeus VIII., der sie jedoch auch zu seinen Gunsten auszunutzen versuchte. So erhielten einzelne Rabbiner die Funktion eines allgemeinen Vertreters der Judenschaft von Savoyen-Piemont. Diese Politik wie auch die Heterogenität der jüdischen Gemeinden bot Konfliktstoff, der sich in zahlreichen, ineinander verwickelten Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Notabeln entlud. Verfolgungen von christlicher Seite blieben dagegen selten. Nur die Anklage der Brunnenvergiftung zur Zeit des Schwarzen Todes 1348 wurde von den Obrigkeiten gegenüber den Juden in Savoyen instrumentalisiert. Sie bildete damit ein Scharnier zwischen den Verfolgungen der Juden im Rhônetal und im schweizerisch-elsässischen Raum.